Mittwoch, 31. Oktober 2012

Kapitel 3.5 – Bedingungslose Teilhabe

Auszug aus dem Buch »Gradido – Natürliche Ökonomie des Lebens«


 »Ob und wie hart Tiere für ihre Nahrung arbeiten, ist von Lebensform zu Lebensform sehr verschieden. Jedes freilebende Tier verhält sich seinem Wesen entsprechend. Will man ein Tier in Gefangenschaft zur Arbeit bringen, muss man es ständig dazu antreiben. Kein Tier würde für ein „Recht auf Arbeit“ kämpfen«
– Joytopia

Menschen sind in dieser Hinsicht nicht viel anders als Tiere. Ein Mensch, der sich seinem Wesen entsprechend verhalten kann, blüht auf. Denken Sie an den Vollblutmusiker. Seine Welt ist die Musik. Er liebt sie über alles. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit greift er gerne zu seinem Instrument um zu musizieren. Seine Gesprächsthemen drehen sich vorwiegend um Musik. Die Musik ist sein Element.

Sperrt man ihn jedoch ein, zum Beispiel als Berufsmusiker in ein Orchester, wo eine strenge Hierarchie herrscht und er seinen Dienst nach Plan tun muss, kann es sein, dass sich seine Begeisterung für die Musik sehr schnell legt. Er beginnt, »Dienst nach Vorschrift« zu machen, also nur noch dann zu spielen, wenn er durch einen äußeren Zwang dazu angetrieben wird.

Was hat seine ursprüngliche Liebe zur Musik abgetötet? In diesem einfachen und doch realitätsnahen Beispiel können wir vier Parameter als »Liebes-Töter« ausmachen:

  • Gefangenschaft
  • Hierarchie
  • zu viel Arbeit
  • äußerer Zwang 

Gefangenschaft

Liebe ist von Natur aus frei. Sie gibt sich gerne freiwillig hin. Bringt man sie in Gefangenschaft, verwandelt sie sich in Prostitution. Gefangenschaft darf nicht verwechselt werden mit einer freiwillig eingegangenen Bindung. Freiwillige Bindungen erzeugen Verlässlichkeit und das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Gefangenschaft beruht jedoch auf Zwang. Der Gefangene sehnt sich nach Freiheit.

Hierarchie

Liebe kennt keine Hierarchien, keine Klassen, keine Kasten. Das Gegenüber ist ein gleichwertiger Partner, dessen Andersartigkeit eine Bereicherung darstellt und Bewunderung auslöst. Hierarchie dagegen ist oft verbunden mit Sanktionen, für den Fall, dass man die Rangordnung nicht respektiert. Wenn andere Sanktionen per Gesetz verboten sind, wird häufig Mobbing angewendet.

Doch in bestimmten Fällen ist Hierarchie erforderlich. Insbesondere bei Organisationsformen, die auf Befehlsstrukturen beruhen, allen voran das Militär. Und auch bei anderen Unternehmungen, die ein präzises Zusammenspiel aller Beteiligten erfordern, ist eine gewisse Hierarchie unerlässlich. Verantwortung und Entscheidungsgewalt wird delegiert an Menschen, die die erforderliche Kompetenz besitzen. Sofern Hierarchie auf echter Kompetenz beruht, wird sie im Allgemeinen auch nicht als unangenehm empfunden. Außerhalb des Dienstes sollte dann Gleichberechtigung herrschen.

Zu viel Arbeit

Selbst die schönste Beschäftigung wird zur unangenehmen Pflicht, wenn sie zu viel wird. Klar, manchmal ist einfach viel zu tun. Und wenn man den Sinn erkennt, schadet das der Liebe nicht. Doch wenn permanent zu viel Arbeit getätigt werden muss und das womöglich auch noch unter Zeitdruck, zehrt dies an der Gesundheit.

Äußerer Zwang

Wenn die Liebe als innere Motivation fehlt, muss äußerer Zwang angewendet werden, um die mechanische Ausführung aufrecht zu erhalten. Zwar kann ein gewisser Zwang über innere Blockaden hinweghelfen, doch sollte er nicht zur Hauptantriebskraft werden.


»Alle Ding' sind Gift und nichts ohn' Gift –
allein die Dosis macht, dass ein Ding' kein Gift ist.«
– Paracelsus

Keiner der Vier Parameter ist nur gut oder nur schlecht. Auf das richtige Maß kommt es an. »Nur die Dosis macht das Gift«, heißt es in der Heilkunde. Wie würde die richtige Dosierung für unseren Vollblutmusiker aussehen? Dies ist natürlich von Mensch zu Mensch verschieden, doch aus dem Vorangegangenen können wir bereits einige Schlüsse ziehen.

Wenn er die Möglichkeit hat, sich freiwillig einem Orchester anzuschließen, die Stelle also nicht ausschließlich aus dem Zwang heraus annimmt, seinen Lebensunterhalt verdienen zu müssen, wird aus der Gefangenschaft eine freiwillige Bindung. Wenn in dem Orchester die Positionen entsprechend den musikalischen und menschlichen Fähigkeiten verteilt sind und unter den Musikern ein Klima der gegenseitigen Wertschätzung herrscht, wird er die Hierarchie gerne als sinnvoll und notwendig anerkennen. Insbesondere, wenn sich die Musiker außerhalb des Orchesterdienstes in einer gleichberechtigten und wertschätzenden Haltung begegnen. Seine individuelle Work-Life-Balance muss stimmen, also das passende Maß an Arbeits- und Freizeit.

Drei wesentliche Arbeitsbedingungen müssen für unseren Musiker stimmen, damit ihm die Liebe zur Musik und seine innere Motivation erhalten bleiben:

  • freiwillige Bindung,
  • kompetente Hierarchie und gegenseitige Wertschätzung,
  • Work-Life-Balance.


Der Dienstplan ist dann nur noch ein sanfter äußerer Zwang, der ihm ab und zu über die nur allzu menschlichen Blockaden hilft. Selbstverständlich gibt es schon jetzt solche vorbildlichen Arbeitsbedingungen in einigen Firmen. Und die wissen auch warum, denn gut motivierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind das wichtigste Kapital eines Unternehmens.

Uns geht es darum, ideale Lebens- und Arbeitsbedingungen für alle Menschen zu schaffen, und zwar weltweit. Damit dienen wir dem Dreifachen Wohl: dem Wohl des Einzelnen, der ideale Lebens- und Arbeitsbedingungen genießt – dem Wohl der Gemeinschaft, denn zufriedene Menschen heben das gemeinsame Lebensgefühl aller – und dem Wohl des großen Ganzen, denn auch für das »Unternehmen Freegaia« sind motivierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter das wichtigste Kapital.

Um  für jeden Mensch ideale Lebens- und Arbeitsbedingungen sicher zu stellen, müssen wir dafür sorgen, dass jeder Mensch überhaupt erst einmal eine Arbeitsmöglichkeit erhält. Diese gilt es dahingehend zu optimieren, dass sie seinen persönlichen Idealvorstellungen möglichst nahe kommt. Hierfür haben wir das Konzept der Bedingungslosen Teilhabe entwickelt.


»Jeder hat das Recht – nicht die Pflicht – zur Bedingungslosen Teilhabe. Teilhabe besteht aus Geben und Nehmen. Jeder Mensch hat also das Recht, seinem Wesen entsprechend zum Gemeinwohl beizutragen.«
– Joytopia

Unabhängig von Alter, Gesundheitszustand, Geschlecht, Hautfarbe, Nationalität, Religion, und Weltanschauung..., erhält jeder Mensch die Möglichkeit, bis zu fünfzig Stunden pro Monat seinem Wesen entsprechend für die Gemeinschaft tätig zu sein und sich damit ein Aktives Grundeinkommen von zwanzig Gradido pro Stunde zu verdienen. Das aktive Grundeinkommen beträgt also maximal tausend Gradido. Gradido heißt »Dank«. Die Gemeinschaft bedankt sich also bei jedem ihrer aktiven Mitglieder: »Tausend Dank, weil Du bei uns bist!«. Die Bedingungslose Teilhabe ist ein Recht und keine Pflicht. Wer seine Zeit lieber anderweitig nutzen will, zum Beispiel um in der freien Wirtschaft zu arbeiten, darf das gerne tun.

»Ob wir nun zum Gemeinwohl beitragen oder in der freien Wirtschaft arbeiten oder beides – es ist wie in der Natur: jeder beschäftigt sich seinem Wesen entsprechend. Wer gerne Brot bäckt, bäckt Brot, wer gerne musiziert, macht Musik. Manche Bürger üben mehrere Berufe aus, weil es ihnen Spaß macht, vielseitig zu sein. Wir tun, was wir lieben, liefern beste Qualität und sind erfolgreich damit.«
– Joytopia

Ungewöhnlich beim Konzept der Bedingungslosen Teilhabe ist die Tatsache, dass jeder das Recht dazu hat, also auch Kinder, Kranke und alte Menschen. Ungewöhnlich vor allem auch deshalb, weil Kinderarbeit hierzulande verboten ist. In den Dritte-Welt-Ländern werden Kinder unter unmenschlichen Bedingungen in so genannten Sweatshops zur Kinderarbeit gezwungen. Dabei stellen sie Produkte her, die bei uns verkauft werden dürfen. Welch doppelzüngige Moral!

Doch es gibt auch Kinderarbeit, die sich sehr positiv auf die Entwicklung der jungen Menschen auswirkt: Kinder, die in Familienunternehmen aufwachsen, arbeiten meist von klein auf mit. Sie sind normalerweise verantwortungsvoller, selbstbewusster und lebenstauglicher als ihre Altersgenossen. Diese Qualitäten bleiben ihnen meist auch im Erwachsenen-Leben erhalten.

Als Junge hatte ich mir gewünscht, möglichst bald arbeiten gehen und Geld verdienen zu dürfen, wie mein Vater. Sobald es mir erlaubt wurde, fing ich an, Prospekte für einen Lebensmittelmarkt auszutragen. Etwas später gab ich anderen Schülern Nachhilfe in Mathematik. In den Schulferien bemühte ich mich um Ferienjobs. Die Möglichkeit, eigenes Geld zu verdienen, trug sehr zu meinem Selbstbewusstsein bei.

Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger, die nicht die Möglichkeit haben, ihr eigenes Geld zu verdienen, leiden oft an Minderwertigkeitsgefühlen. Dabei geht es weniger um das Geld, sondern um das Bewusstsein, ein vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft zu sein, seinen Beitrag leisten zu dürfen. So ist es auch zu verstehen, wenn Rentner, die ihr ganzes Arbeitsleben lang für die Rente einbezahlt hatten, kurz nach ihrer Pensionierung krank werden und sterben, weil sie nicht mehr das Gefühl haben, gebraucht zu werden.

Bedingungslose Teilhabe bedeutet also, seinem Wesen entsprechend zum Gemeinwohl beitragen zu dürfen. Die erste Frage lautet: was machst du gerne, was kannst du, was möchtest du beitragen? Erst danach wird geprüft, wie diese Fähigkeiten optimal für die Gemeinschaft eingesetzt werden können. 

Das kann bereits im Vorschulalter mit kindgerechten Aufgaben beginnen und sich dann weiter entwickeln. Die Entwicklung des höchsten Potenzials, seine ganz persönlichen Neigungen und Fähigkeiten zu entdecken und seine Lebensaufgabe zu finden, erscheint uns als wichtig genug, um dieses Thema als Hauptfach für die Schule zu empfehlen.

In der Übergangszeit werden auch Erwachsene dabei Unterstützung brauchen. Viele haben inzwischen vergessen, was sie wirklich wollen und was sie gerne tun. Sie hören ihre innere Stimme nicht mehr; sie haben aufgehört, ihre inneren Sehnsüchte zu spüren, sich ihre Wünsche zu erlauben und eigene Ziele zu setzen. Hier kann die Gemeinschaft mit geeigneten Maßnahmen helfen. Es gibt schon heute sehr gute Methoden, sein volles Potenzial zu entwickeln. Das kann auch in Gruppen geschehen.

Auch kranke Menschen haben meistens das Bedürfnis, gebraucht zu werden und sich in die Gemeinschaft einzubringen. Und auch ihnen gilt es gegebenenfalls Hilfestellung zu leisten. Im Idealfall wird dies ihre Lebensqualität und sogar ihren Gesundheitszustand positiv beeinflussen.

Menschen mit Behinderungen haben oft ganz außergewöhnliche Fähigkeiten. Kennen Sie die Brenzband? Das ist eine etwa fünfzehn-köpfige Musik-Kapelle, die zum großen Teil aus Menschen mit Behinderungen besteht. Bei ihren Konzerten bringen sie eine solche Sympathie und menschliche Wärme rüber, dass es die reine Freude ist. Bei ihren zahlreichen Auftritten spielen sie inzwischen auch bei politischen Anlässen und schaffen es dabei, die Menschen zu Tränen zu rühren. Ihre Auslandstourneen reichen bis nach China, und vor ein paar Jahren erhielten sie sogar einen Preis der UNESCO. Es ist sicher nicht nur ihre Musik, die das Publikum berührt. Die Liebe und die Intensität, mit der diese Musiker »mit Behinderung« bei der Sache sind, rührt einfach die Herzen an.

Oder kennen Sie den Film Rainman, in dem Dustin Hofmann einen autistischen Mann spielt, der seinem jüngeren Bruder, einem herzlosen Geschäftsmann, wieder menschliche Gefühle beibringt?

Das sind nur zwei grundverschiedene Beispiele für die außergewöhnlichen Qualitäten, die Menschen mit Behinderungen in unser Leben bringen können. Stattdessen werden sie in unserer Gesellschaft leider häufig weg gesperrt. Wie reich wird unser gemeinsames Leben werden, wenn auch sie die Bedingungslose Teilhabe genießen um sich auf ihre ganz persönliche Weise in die Gemeinschaft einbringen dürfen!

Wie wir sehen, können und wollen viel mehr Menschen ihren Teil zum Gemeinwohl beitragen, als landläufig vermutet wird. Ihnen allen das verbriefte Recht auf Bedingungslose Teilhabe zu geben (oder besser gesagt zurückzugeben, denn in unserer Gesellschaft wurde es ihnen genommen), wird unser aller Lebensqualität um ein Vielfaches anheben.

Es versteht sich von selbst, dass Menschen, die gar nichts tun können oder aus gesundheitlichen Gründen eine Auszeit brauchen, ihr Grundeinkommen und die nötige Pflege erhalten, ohne dass eine Gegenleistung von ihnen erwartet wird. Sie sind ja glücklicherweise schon jetzt in einigen Ländern durch Sozialhilfe, Rente oder ähnliches versorgt. In der Natürlichen Ökonomie des Lebens sind sie vollwertige Mitschöpfer: wie alle anderen Menschen tragen auch sie zur Geldschöpfung bei.

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